Designer Stories

Stierkopf und Traktorsitz

Viel wurde über den 'Ready Made' Designer Castiglioni gesprochen, dessen Entwürfe auf die 'ironische' Qualität der Gebrauchsgegenstände hinweisen wollen. Ohne Zweifel finden wir Castiglionis Entwürfe von einem tiefsinnigen und subtilen Humor durchsetzt, doch erscheint der konzeptuelle Gedanke einer Gestaltungsphilosophie, die ihre Kraft aus der bloßen Polemisierung des Alltags zieht, hier nicht zu greifen. Immer wieder hat Castiglioni auf einen entscheidenden Punkt seiner Gestaltung hingewiesen: "Die meisten Ideen existieren bereits. Sie müssen nur aufgegriffen und verarbeitet werden."



PICASSO STIERKOPFEs gilt dieser Facette im Werk Castiglionis mit dem Blick auf eines der prominentesten Werke Pablo Picassos zu begegnen. Picassos 1942 entstandener Stierkopf gilt zurecht als Inkunabel der Kunst des 20. Jhdts. Die simple Kombination eines Fahrradsattels und einer Lenkstange legt eine immense, überraschende Wirkung frei. Aus der Montage beider Teile ergibt sich die plastische Form eines Stierkopfes, die eindringlicher nicht sein kann. Hinter diesem, neu geschaffenen Zusammenhang tritt die ursprüngliche Bedeutung der Dinge zurück. Picassos Interesse ist hier ganz eindeutig auf die formschaffende Kraft, die den Gegenständen inneliegt, gerichtet. Durch sie wird das Banale der Gegenstände auf eine höhere Wirklichkeitsebene transportiert.

MEZZADROWir spüren die gleiche wunderbare Begabung bei Castiglioni. Auch er 'findet' die Formen und selektiert das Geeignete aus der Masse alltäglichster Gegenstände. Der 'Mezzadro' betitelte Hocker, den Achille Castiglioni 1954 gemeinsam mit seinem Bruder Pier Giacomo entwarf, steht paradigmatisch für diese gleichermaßen innovative wie poetische Arbeitsweise. Auf einen ersten Blick scheint die Wahl der Sitzschale eines Traktors unkonventionell, mehr noch: provokativ. Doch kann der kurze überraschende Augenblick nicht die intensive Wirkung erklären, von der Castiglionis Objekt seit der Serienfertigung 1971 (Zanotta) nicht etwas eingebüßt hat. Hier kommt die große Qualität der Entwürfe Achille Castiglionis zur Sprache, in der sich innovative und traditionelle Elemente zu neuen Funktionseinheiten bündeln. Sowohl in der metallenen Sitzschale des Hockers wie auch das, in seiner Form an eine Leitersprosse angelehnte Stützelement erinnern an die Vorliebe Castiglionis auf den Reichtum solider Alltagsformen zurückzugreifen,- es sind anonyme Formen, die über lange Zeiträume ihre Nutzbarkeit in der tagtäglichen Anwendung bewiesen haben. Der verchromte Bandstahl, der seinerseits Sitz und Stütze des Hockers verbindet, scheint eine ebenso stille wie elegante Hommage an die Möbelentwürfe Mies van der Rohes, in dessen BRNO Stuhl oder Barcelona-Serie wir dieses Material bevorzugt eingesetzt sehen.


TOIOAus der seltsamen Liason von Scheinwerfer, Säge und Angel gelingt Castiglioni 1962 auf ähnliche Weise der spannende Entwurf einer, bis auf den heutigen Tag ungewöhnlichen Leuchte: der 'Toio'. Auch hier zeigt sich die Wirksamkeit des Zusammenspiels der unterschiedlichen Elemente. Der, durch die Form einer Säge inspirierte Sockel hält eine filigrane, höhenverstellbare Säule, auf deren Ende wir einen Automobilscheinwerfer montiert finden. Die Kabelführung erfolgt durch Metallösen, deren Funktion bei Angelruten entliehen ist. Mit ihrem im Sockel offenliegenden Transformator hat Castiglioni eine, puristisch direkte Leuchte in der Tradition der Moderne geschaffen. In ihr überdecken sich zugleich zwei wesentliche Komponenten seines Stils: schöpferische Unbefangenheit und innovative Konstruktion.

 

 

Die Entdeckung des Nichts

 

Castiglioni's Löcher - Ein Gestaltungsdetail

 

CUMANOVon Castiglionis geradezu spielerischem Umgang mit Ideen und Gestaltungselementen zeugt die Verwendung von Löchern. In der Durchsicht seiner vielfältigen Entwürfe stoßen wir auf die Fähigkeit des Gestalters, auch dem Nichts einen funktionalen Effekt zu entlocken. Bei dem, seit 1979 von Zanotta hergestellten 'Cumano', einem Klapptisch der sichtlich von der Idee französischer Bistrotische beeinflußt ist, verdeutlicht sich diese Idee. Die zugrundeliegende Konzeption: ein zugleich flexibles und kommunikatives Möbel zu schaffen, daß sich nach dem eigentlichen Gebrauch, raumsparend und zusammengefaltet verstauen läßt. Doch finden wir hier das Prinzip des Klappmöbels um eine entscheidende Möglichkeit erweitert: Der Cumano läßt sich aufhängen. Die simple Ausstanzung eine Lochs in der Platte des Tisches ermöglicht diesen Kunstgriff, der sich ebenso raumsparend wie dekorativ erweist.

Selbst für den zuvor erwähnten Hocker 'Mezzardo' wählte Castiglioni noch nachträglich den typischen Traktorsitz aus gelochtem Stahlblech. Die erste Version dieses Möbels wurde damals, 1957 mit einer durchgehend geschlossenen Sitzschale präsentiert, der jedoch augenscheinlich die ästhetische ansprechende und direkte Wirkung der Lochstruktur fehlt.

Obwohl sich die unmittelbarste Wirkung der Formensprache Castiglionis über das Licht erschließt, gibt es doch eine ganze Reihe von Gegenständen deren Konzeption in gleicher Art durchdacht und gestaltet erscheint wie die Leuchten. Sanitär-Design, Radioempfänger, Regale, Tische, Uhren, Glas und Sessel haben das Studio Castiglionis verlassen. Doch kommen Formgefühl und auch jener, typische Humor Castiglionis besonders in seinen Küchenaccessoires, Bestecken und Gläsern zum Vorschein. Gemeinsam mit Alessi, dem renommierten Hersteller italienischer Tafelaccessoires ging man eine ganze Reihe von Gestaltungsaufgaben rund um den Tisch an: Öl und Essigkännchen, Salatschüsseln, Bestecke. In den gestalteten Objekten spiegelt sich der Gedanke der Langlebigkeit in gleicher Weise" wie Achille Castiglionis generelle Liebe zur Tradition des gemeinsamen Essens. Bei Castiglioni dürfen wir den gedeckten Tisch als Hinweis auf die kommunikative Bedeutung des Essens werten. So ist der dekorierte, gedeckte Tisch auch ein stets wiederkehrendes Exponat in den zahlreichen Ausstellungen und Präsentationen.

 

ALESSI ASCHENBECHERMitte der Achtziger Jahre hatte Achille Castiglioni für Alessi einen Aschenbecher gestaltet, der zum Symbol für eine Gestaltungssprache wurde, in der die Rationalität des Gedankens genauso wichtig erscheint, wie amüsante oder überraschende Effekte. Im Design des "Spiral Cigarette Holder" bringt der Gestalter Castiglioni auf anregende Art seine pragmatische Sichtweise des Rauchens zum Ausdruck. Bewußt ist das Objekt ein "Zigarettenhalter" und kein Aschenbecher. Castiglioni greift hier auf eigene Erfahrungen zurück, in denen er während der Arbeit das Rauchen unterbrechen mußte und für seine Zigarette einen sicheren Ablageplatz benötigte. Im 'Spiral Cigarette Holder' scheint er die Lösung für sich und andere gefunden zu haben: im Inneren einer abgeflachten dreiviertel hohen Metallkugel, findet sich eine, den Rand umlaufende Metallspirale, zwischen dessen Windungen sich die Zigarette bequem einlegen läßt. Ist die Asche der Zigarette zu schwer, fällt sie auf den Boden der Kugel. Funktional, simpel und kommunikativ. Wie viele der Objekte Castiglionis, insbesondere derer, die für den Tisch bestimmt sind, haben die von Castiglioni entworfene Gegenstände neben ihren funktionalen Aspekten stets eine eigene Sprache der Schönheit.



ROSI ARCANDIDRY'Rosi und Arcandi' oder das Besteck 'Dry' aus der Alessi Serie deuten auf die feinsinnige Begabung Castiglionis, Tischaccessoires als elementare Bestandteile einer Kultur zu sehen, die das kommunikative Miteinander der Tischgesellschaft in ihren Mittelpunkt rückt. So weisen glänzend polierte Enden von Löffel, Messer und Gabel des Dry Bestecks auf die Kochkunst und das gesellschaftliche Ereignis hin, während die mattiert, griffigen Besteckenden an die ursprüngliche Funktion des 'Esswerkzeugs' erinnern.

 

 


TELEFONOEinige andere, hervorragende Gedanken Achille Castiglionis sind leider nie über das Prototypenstadium herausgekommen. Hierzu gehört etwa eine Telefonstudie von überragender Schönheit, die 1977 für die Telefongesellschaft Italtel entworfen wurde. Auch das Modell einer leicht-handhabbaren Fotokamera für Kinder oder der Sitz für die sportiven Automobile des italienischen Hersteller Lancia kamen nicht zur Realisation. In solchen Konzepten zeigt sich das weite Feld der Ideen und Interessen, die von Castiglioni aufgegriffen und in Form gebracht wurden. Und doch, trotz der vielfältigen Objekte und des Erfolges, mit dem sich die Dinge über Jahrzehnte hinaus bewähren: sollte man Castiglioni vor die Wahl stellen, es scheint als würde er stets seiner alten Obsession, dem Licht den Vorzug geben.

 

Mit Castiglioni begann eine neue Ära in der Geschichte des Lichts. Seine wundervollen Entwürfe entstanden im Bewußtsein, daß der Gestaltungsprozeß auf einer engsten Zusammenarbeit von Gestalter und einer Handvoll spezialisierter Handwerker basiert, die Castiglioni in Anlehnung auf die italienische Renaissance achtungsvoll als Künstler bezeichnete. Mehr als die virtuose Handhabung von ästhetischer Formgebung und innovativer Lösungen können wir bei ihm über die Dinge selbst lernen: "Da jeder Tag eine neue Realität mit sich bringt, muß man sich dem Design mit der dauernden Gewißheit nähren, daß auch der geringste Gegenstand eine eigene Geschichte zu erzählen hat ..."

Hans Irrek, März 1997

 

Castiglioni in internationalen Sammlungen: (Auswahl)
Mit Ausnahme beispielsweise des 'Spalter' Vacuum Cleaners (1956) befinden sich größtenteils Leuchten in den internationalen Designsammlungen. Folgende Leuchten sind etwa in der Sammlung des MOMA, New York: Luminator 1955, Toio 1962, Arco 1962, Taraxacum, Parentesi 1971, Frisbi 1978, Brera A Saspens 1992
 
Sammlungen
  • Museum of Modern Art, New York
  • Victoria & Albert Museum, London
  • Tobjörn Lenskog Collection, Stockholm
  • Kunstgewerbemuseum, Zürich
  • Neue Sammlung, München
  • Israel Museum, Jerusalem
  • Keiji Nagai Collection, Fukuoka

 

Literatur zum Thema Castiglioni: (Auswahl)
  • Alla Castiglioni, Hrsg. Cosmit, Mailand 1996: Handbuch zur gleichnamigen Ausstellung, die noch bis zum August 1997 im Vitra Museum, Weil am Rhein, zu sehen ist.
  • Achille Castiglioni, Electa, Mailand 1985: Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Centre Pompidou / Centre de Creation Industrielle 1985/86, Paris
  • Design since 1945: Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Philadelphia Museum of Art, 1983
  • Progetto e Produzione, entretien de d'Achille Castiglioni, by Paolo Ferrari and Eugenio Bettinelli, Linz 1980

 

Empfehlenswerte Literatur zum Thema Licht: (Auswahl)
Als Repräsentant renommierter Verlagshäuser, darunter a+u, GLOBAL Architecture und GA Document, aus Japan, Skandinavien und Amerika, führt GINKO PRESS, Hamburg ein Angebot hochwertiger und aktueller Literatur zu den Bereichen Architektur, Interieur, Design und Photographie. Die hier vorgestellten Titel sind ausschließlich über den Buchhandel zu beziehen.
 
GA - Global Architecture - Light & Space - Modern Architecture l+II. ISBN 4-87140-552-4 ISBN 4-871140- Engl. u. jap., jeweils 215 Seiten, Paperback
Eine neue Serie von GA, Tokyo, die sich mit den Problemen und Lösungsansätzen der Lichtgestaltung innerhalb der modernen Architektur auseinandersetzt. Beginnend mit Le Corbusier und der Glasarchitektur Chareaus werden verschiedene Ansätze der architektonischen Gestaltung mit Licht vorgestellt. Themen sind u.a. Transparenz und 'metaphysisches' Licht, Der Mythos von Eisen und Glas, Die Verwendung des Lichts in der modernen Architektur u.a. bei Barragan, Isozaki, Gehry, Scarpa oder Siza. Mit eine Einführung von Paolo Portoghesi und einem Essay von Rilchi Miyake. Wie alle Global Architekture Publikationen lebt das Buch nicht zuletzt von der außergewöhnlichen Qualität der Abbildungen.
 
Poetics of Light by Henry Plummer, a+u, ISBN 4-900211-20-6 Engl. und jap., 196 Seiten, Paperback
Der Band poetics of Iight' gilt als Standardwerk zur Lichtthematik. Der Autor, Henry Plummer gilt weltweit als eine der führenden Autoritäten, die sich diesem vielschichtigen und reizvollem Thema zugewandt haben. Anhand der Architektur des Klosters La Tourette, der Alhambra oder Frank Lloyd Wright's Falling Water führt Plummer den Leser in die Aspekte von Licht und Raum ein, zeigt das Verhältnis von Licht und Zeit auf eine fundierte Einführung in die kulturelle Geschichte des Lichts in seiner umfassenden, vielschichtigen Bedeutung.
 
Light in Japanese Architecture by Henry Plummer, a+u, ISBN 4-900211-49-4 Engl. und Jap., 400 Seiten, Paperback
Ein Band der sich speziell mit der Ästhetik und den Lichtarangements in der japanischen Architektur auseinandersetzt. Dabei kommt dem Licht in Verbindung mit verschiedenen Materialien wie Holz, Papier oder Beton besondere Bedeutung zu. Zugleich geben verschiedene Spielarten der Gestaltung des Lichts einen Einblick in die spezifisch japanische Kunst, durch den architektonischen Raum in Zusammenwirkung mit Elementen der Natur bestimmte Lichtstimmungen hervorzubringen. Ein 'Lehrbuch', für die Sinne und den sensiblen gestalterischen Umgang mit dem Medium Licht.